Meergrau

Mit dem Ankommen ist das so eine Sache. Eine sehr ambivalente Sache, wie mir angesichts einer Stichwortsammlung zum Thema bewusst wurde. Man kann es ganz konkret an einem Ort/Ziel oder zu einer bestimmten Zeit und einem bestimmten Grund. So weit der einfache Teil. Viel interessanter wird es jedoch, wenn man sich das An(ge)kommen im übertragenen Sinn anschaut. Auffällig, die vielen positiven Assoziationen, die damit verbunden sind. Da fallen Begriffe wie sicher, frei, aufgehoben, zugehörig, Zufriedenheit, Erfüllung … So viel Idealbild macht mich grundsätzlich misstrauisch. Nur gut gibt es meiner Meinung nach (jenseits englischer Gärten 😉 ) nicht.
Kann man denn wirklich an einem ganz bestimmten Punkt im Leben ankommen? Also mal abgesehen von einem Ort, an dem man dann lebenslang bleibt, was sich sehr heimelig anfühlen kann, drängt sich mir da der ein oder andere Zweifel auf. Ein Satz von Robert Seethaler kam mir in den Sinn: „Er war klug genug gewesen, sich seine Sehnsüchte nicht zu erfüllen“ (aus „Das Feld“ – absolut lesenswert, wie alles von Seethaler!). Außerdem glaube ich zutiefst an die Ambivalenz von nahezu allem. Auch und gerade von Gefühlen, stellen sie sich schlussendlich doch gern als ausgesprochen widersprüchlich und letztlich temporär heraus. Doch all dass will ich an dieser Stelle gar nicht weiter ausführen sondern lediglich darauf hinweisen, dass ich mich in der nächsten Zeit mit diesem Thema auseinanderzusetzen gedenke. Es ist seit langem das erste, das es vermochte, meine coronabedingte (oder wegen mir auch nur coronaverstärkte) Schreibhemmung auszuhebeln. Nicht leicht in Zeiten wie diesen ein Thema zu finden, das die Gedanken hinreichend fesselt, um einen gewissen Output zu erwirken. Nun hoffe ich, dass dies so bleibt und das erste Ergebnis euch zusagt. Eigentlich hatte ich mir als erste Übung nur das Ankommen an einem Ort vorgenommen. Eigentlich … Schaut halt, was dann passierte.
Viel Vergnügen beim Lesen!

Lesung

Da vorn musste es sein. Sie bog auf den Schotterweg ab und bremste nach wenigen Metern vor einem Gatter, das sie im Gegenlicht beinahe nicht gesehen hätte. Rechts erkannte sie jetzt eine Ausbuchtung, groß genug für ein bis zwei Autos, an deren Ende sich ein Unterstand für Mülltonnen in die Dünen schmiegte. Anscheinend ging es von hier aus nur zu Fuß weiter. Sie setzte zurück, lenkte den Wagen auf den Parkplatz, schaltete den Motor aus und streckte sich. Wie immer nach langen Fahrten, fühlte sie sich müde, steif und unbeweglich. Was sie wohl im Haus erwarten würde? Hoffentlich hatten die Bilder nicht zu viel versprochen. Die Lage war ja kaum zu toppen, nur 200m bis zum Meer. Über das Lenkrad gebeugt blinzelte sie in den Himmel. Was für Farben! Ohne es sehen zu können, wusste man, das Meer konnte nicht weit sein. Etwas in ihr begann zu vibrieren. Na dann mal los. Sie öffnete die Autotür und stand im nächsten Moment in einem eiskalten Wind, der ihr das Haar ins Gesicht peitschte. Trotzdem legte sie den Kopf in den Nacken und atmete tief ein. Herrlich! Aber auch kalt. Wenn sie noch lange hier rumstand, würde sie sich erkälten und morgen schniefend im Haus sitzen, anstatt über den Strand zu wandern. Entschlossen umrundete sie das Auto und nahm die Reisetasche vom Sitz, den Rest würde sie später holen. Hinter dem Gatter wand sich der Weg in einer langgezogenen Kurve zunächst leicht aufwärts durch die Dünen, um dann wieder abzufallen. Das Haus lag geschützt in einer Mulde. Aus zwei Fenstern neben der Tür fiel warmes Licht auf einen aus Kieselsteinen gepflasterten Halbkreis, auf dem eine weiße Bank stand. Sie lächelte. Bis hierhin entsprachen die Bilder der Realität. Vielleicht könnte sie hier morgens Kaffee trinken. Tee, korrigierte sie ihre Vorstellung. Kaffee am Morgen war entschieden zu urban für solch einen Platz. 
Als sie die Tür aufschloss klingelte ihr Telefon. Sie sah auf das Display: Rüdiger. 
»Hallo«, sagte sie und stellte die Tasche in der geräumigen Diele ab. 
»Gut angekommen?« Er klang besorgt.
»Ja, gerade eben.«
Im Haus roch es ein wenig muffig, aber mit etwas Lüften würde sich das geben. Dafür war es angenehm warm. 
»Und wie ist es?«
»Ich glaube schön. Viel habe ich noch nicht gesehen, du hast mich im Reinkommen erwischt. Es gibt eine weiße Bank vor der Tür.« Sie lachte. »Und eine Truhe im Flur und schwarz-weiße Fußbodenfliesen.«
»Das kling ja schon mal gut. Und sonst?«
»Ich weiß noch nicht. Mal schauen …«
Die Tür, die sie öffnete, führte in ein Wohnzimmer, das die Abendsonne in ein sanftes Licht tauchte. Sie ging zur Terrassentür und sah hinaus. Sah Blau, Grau, Weiß, wenig Grün und noch weniger Rot. Die Natur ist ein einzigartiger Maler, hatte ihr Vater immer gesagt. Das Meer, die Wolken, Sand, Gras … die Sonne scheint immer gleich. Es ist die Natur, die Landschaft, die das Licht macht. Das musst du wissen, wenn du malst. Das Licht kommt nicht von oben, es entsteht im Zusammenspiel der Elemente. Nirgends kann man das besser sehen als am Meer. 
»Klara, bist du noch da?«
»Entschuldige, Ich musste nur gerade an meinen Vater denken. Er war so gern am Meer.«
»Ja, das hat er mir beim letzten Besuch noch erzählt.« Er stockte. »Bist du sehr traurig?«
Zwei Möwen schossen kreischend über die Terrasse.
»Nein … ein wenig … ja. Aber es tut gut hier zu sein.« 

Sie legte eine Hand auf die Scheibe. Du fühlst niemals nur eine Textur, du fühlst immer auch dich selbst. Alles Fühlen ist ein Zusammenspiel. Es ist wie mit dem Meer, den Wolken und dem Licht. Es ist ein Zusammenspiel, niemand fühlt genau das Gleiche wie du. 

»Du bist sicher, dass ich nicht kommen soll?«
»Ja, bin ich. Im Moment zumindest.« 
»Wenn sich das ändert, sag Bescheid. Du weißt, ich eise mich dann schnellstmöglich hier los.«
»Ja, ich weiß.« Sie wandte sich vom Fenster ab und ging zurück in den Flur. 
»Das ist lieb, aber jetzt packe ich erst einmal aus und mach es mir gemütlich. Vielleicht gehe ich auch noch einmal kurz das Meer begrüßen bevor es dunkel wird.«
»Gut, tu das. Bis morgen dann. Schlaf gut.«
»Bis morgen.«

Immer noch im Mantel überlegte sie, was sie zuerst tun wollte. Ach was, das Auspacken konnte warten, sie würde jetzt an den Strand gehen. Fünf Minuten später sah sie vom Dünenkamm hinunter aufs Meer. Der Wind warf es donnernd an den Strand. Grau. Weiß. Blau und gewaltig. Am Horizont traf wogendes Schwarz auf milchig dunkles Grau, als wolle es den Himmel verschlingen. Genauso wollte sie es malen, düster und bedrohlich. Laut. Doch je höher der Himmel sich wölbte, desto lichter erschien das von Wolken durchzogene Grau. In einem Moment blitzte die Sonne zwischen den Wolken auf, verteilte silbrige Sprenkel und ließ die Gischt leuchten, im nächsten verkündeten tiefdunkle Wolken Unheil. 

Papa, wie malt man das Meer? Er sieht sie über den Rand der Brille hinweg nachdenklich an. Dann lächelt er. Eigentlich ist es einfach. Du musst genau hinschauen. Lange. Du musst lernen es zu sehen. Und dann musst du verstehen, warum du siehst, was du siehst. Wenn du beides kannst, ist es leicht. 

4 Kommentare Gib deinen ab

  1. Sylvia Mandt sagt:

    Einmal gehört, einmal gelesen, immer berührend. Und das Meer sichtbar, hörbar, spürbar.

    Viel Spaß an Strand, Meer und Sand…
    Sylvia

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  2. Sylvia Mandt sagt:

    Einmal gehört, einmal gelesen, immer berührend. Und das Meer sichtbar, hörbar, spürbar.

    Viel Spaß an Strand, Meer und Sand…
    Sylvia

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  3. Jens sagt:

    ich weiss nicht, was zwischen beiden Protagonisten passiert (ist), kann nur mutmaßen, wie auch um das Verhältnis zum Vater und zum Grund der Reise…das wirft mich auf mich selbst und meine Gedanken und Schubladen zurück!

    Daher meine Meinung: gut!

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  4. Schöne tGeschichte. Ich komme gerade von der Insel Vlieland und das Haus könnte genau da stehen….. schade, dass die Geschichte so kurz ist….
    Gibt es eine Fortsetzung oder einen Roman in dieser Art?

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