Inseltage

„Die Welt soll durch Zärtlichkeit gerettet werden.“
Fjodor Michailowitsch Dostojewski

Merkwürdig, fast paradox, kreiste der Satz ‚Ich möchte etwas Zärtliches schreiben’ in meinem Kopf.

»Ausgerechnet in einer Zeit, in der Meldungen über Krieg und Terror, Flüchtlinge und Fremdenfeindlichkeit in kaum zu ertragender Fülle die Nachrichten dominieren, denkst du an Zärtlichkeit«, wies ich mich zurecht. Doch es half nichts, der Satz blieb; wohl weil die Gegenwart ist wie sie ist.
Lange habe ich überlegt, was ich denn nun Zärtliches schreiben könne. Ich verwarf unzählige Ideen als unbrauchbar und wollte schon fast aufgeben, als ein Satz Martin Walsers sich in meinem Kopf auf ähnliche Weise verfing: ‚Ich bin für Historisches anfällig.‘

Er geisterte mir durch den Kopf, als sei er auf der Suche nach einer sinnvollen Ergänzung. Irgendwann traf er bei dieser Suche auf eine Urlaubserinnerung. Als sei es gestern gewesen tauchte das Bild der mecklenburgischen Strandspaziergängerin vor mir auf, sah ich das schöne, alte Gesicht mit den lächelnden Augen, die Gelassenheit und Würde, die sie inmitten des Getümmels ausstrahlte und empfand etwas wie Zärtlichkeit. So ließ ich sie, dem kreisenden Satz folgend, in eine Geschichte treten, in der alles außer ihrer Beschreibung Fiktion ist. Als der Text fertig war, tilgte ich Walsers Satz. Zwar hatte er den Anstoß gegeben, zum Verlauf passte er dann jedoch nicht mehr, irritierte vielmehr und ließ Anderes im Anschluss erwarten.
Ob es mir gelungen ist etwas Zärtliches zu schreiben, müsst Ihr beurteilen.

Lesung

Selbst an diesem Strand war sie eine ungewöhnliche Erscheinung, darum sah ich nicht weg, als sie auf mich zukam. Langsam, mit einem Lächeln auf dem Gesicht, das irritierend fest in den Zügen saß, obwohl die Haut zu groß für die darunterliegenden Muskeln wirkte. Um die Schultern trug sie ein Tuch, ansonsten war sie nackt. Für eine Frau ihres Alters war sie groß. Flach lagen die Brüste auf dem Brustkorb, den sie mit einer gewissen Mühe aufrecht hielt. Arme, Beine, Bauch, allem schien sie entwachsen zu sein. Über der Lücke zwischen ihren Schenkeln wölbte sich eine schüttere Scham. Die Hand, mit der sie das Tuch zusammenhielt, war übersäht von Altersflecken. Unter dem Arm trug sie ihre zu einem Bündel zusammengeschnürte Kleidung. Ich schätzte sie auf deutlich über achtzig. Eine Frau aus dem Norden, mit heller Haut und großen Füßen.

Niemand schien Notiz von ihr zu nehmen. Gelassen wich sie tobenden Kindern und entgegenkommenden Strandspaziergängern aus. Ich schaute ihr nach und mir fiel auf, dass sie nicht einmal den Kopf senkte, sondern allen, ob angezogen oder nackt wie sie, mit unbefangen freundlichem Blick begegnete. So etwas gibt es nur hier, dachte ich. Nirgends sonst hatte ich bisher ein so unaufgeregtes Nebeneinander von konventionell Badenden und Nudisten gesehen. Meist sammelten sich die Anhänger des Nacktbadens in eigens für sie abgesteckten Bereichen, die von den anderen gemieden und nur spazierend gekreuzt wurden.

Ich sah sie von nun an täglich, meist am späten Vormittag. An der nächsten Buhne zog sie sich stets wieder an und ging, mit Schritten, denen man die Anstrengung ansah, die Düne hinauf. Wo sie auf den Strand trat, wusste ich nicht. Weit konnte sie nicht gegangen sein, vermutete ich. Kam sie einmal erst am Nachmittag, wurde mir bewusst, dass meine Augen sie zuvor gesucht, ich sie vermisst hatte. Wie der Würstchenverkäufer war sie Teil meiner Urlaubstage geworden. So wie mir zuhause die zur Arbeit aufbrechenden Nachbarn und der verlässlich zwischen zwei und halb drei auftauchende Briefträger Zeitzeichen waren, zählte sie zu den Einheiten, in die ich meinen Tag unterteilte. Nach ein paar Tagen nickten wir uns zu, wenn sich unsere Blicke begegneten. Ihr schien es nicht unangenehm zu sein, von mir betrachtet zu werden.

Es war während eines solchen Nickens, als der Ball sie zu Fall brachte. Ich sah, wie der Schreck ihr im Sturz die Augen weitete und war im nächsten Moment auf den Beinen, um zu ihr zu eilen. Sie lag auf der Seite, war ungeschützt auf die Schulter gefallen.

»Kannst Du nicht aufpassen!«, herrschte ich den Jungen an, der hinter dem Ball her ins Wasser rannte, ohne Notiz von dem Unfall zu nehmen.

»Geht es?«, fragte ich und versuchte ihr aufzuhelfen.

»Danke, es geht schon. Nichts passiert«, antwortete sie.

Der Arm, unter den ich fasste, bestand nur aus Haut und Knochen. Ich fürchtete, ihn zu zerbrechen und lockerte unwillkürlich den Griff, was sie gespürt haben musste.

»Keine Sorge, so leicht zerbreche ich nicht«, sagte sie und stützte sich mit dem freien Arm im Sand ab, um mit meiner Hilfe hochzukommen. Schwankend stand sie neben mir und atmete tief ein und aus.

»Man sollte am Strand immer mit so was rechnen«, sagte sie mit einem verlegenen Lächeln und wies auf die spielenden Kinder.

Ich war merkwürdig zornig und starrte ärgerlich zu dem im Wasser planschenden Jungen. Am liebsten hätte ich ihn aufgefordert, sich zu entschuldigen. Vielleicht auch, weil ich ein schlechtes Gewissen hatte. Hätte ich sie nicht mit meinem Blick abgelenkt, ihr Erkennen und freundliches Nicken nicht nahezu erwartet, hätte sie dem Ball sicher rechtzeitig ausweichen können. Noch immer lag meine Hand unter ihrem Arm, spürte ich die trockene Wärme der viel zu dünnen Haut. Wie warmes Seidenpapier, es hätte mich nicht überrascht, wenn ein leises Rascheln zu hören gewesen wäre.

»Oh nein, meine Sachen!«, rief sie in diesem Moment.

Das Bündel mit den Kleidern trieb auf den auslaufenden Wellen.

»Warten Sie.« Ich ließ sie los und zog die durchnässten Sachen aus dem Wasser. Tropfend hielt ich sie in die Höhe. »Ich fürchte, die brauchen ein wenig, bis sie wieder trocken sind.«

»Ach je, so was Dummes aber auch. Was mache ich denn nun, so kann ich ja schlecht über die Straßen nach Hause laufen?«

Beinahe verzweifelt sah sie an sich hinab.

»Kommen Sie, setzen Sie sich erst einmal einen Moment und erholen Sie sich von dem Schreck. Haben Sie sich auch bestimmt nicht weh getan?«

Ohne ihr Einverständnis abzuwarten, führte ich sie zu meinem Platz. Sie ließ es geschehen und schon saßen wir nah beieinander auf dem nicht besonders großen Laken.

Im Gegensatz zu ihr war mir die Nähe zu einer fremden, gänzlich unbekleideten Frau erstaunlicherweise nicht unangenehm. Während ich ihre Kleider neben uns im Sand ausbreitete, versuchte sie sich das Tuch über die Brüste zu ziehen. Unbehaglich suchte sie nach einer halbwegs würdevollen Haltung. Sie zitterte, der Sturz hatte sie wohl doch mehr aus der Bahn geworfen, als sie zugab. Sicher hatte sie auch Schmerzen, ich tippte auf die Schulter. Sie musste sich furchtbar fühlen. Erst der Schock und nun saß sie nackt neben einer sehr viel jüngeren Frau im Einteiler, die sie überhaupt nicht kannte.

»Darf ich Ihnen meine Bluse anbieten? Sie zittern, kein Wunder nach dem Schreck.«

Mit einem Griff fischte ich meine Strandbluse aus dem Korb. Die war zwar nur aus dünner, wenig wärmender Baumwolle, aber sehr lang und würde ihr damit wenigstens das Gefühl der Entblößung nehmen.

»Sie sind sehr freundlich, ich weiß gar nicht, wie ich Ihnen danken kann.«

Erleichtert ließ sie sich in die Bluse helfen und zog sie sich über den Schoß. Mit dem Stoff kehrte etwas von ihrer Gelassenheit zurück.

»Ich bin doch mehr erschrocken als gedacht. So was Albernes. Und nun mache ich Ihnen auch noch Umstände.«

»Das macht gar nichts. Hauptsache, Sie haben sich nichts getan. Tut die Schulter weh?«

»Nein«, beeilte sie sich zu versichern, »das ist nichts. Wenn ich nur …« Sie stockte und sah auf ihre nassen Sachen. »Wenn ich nur wüsste, wie ich nun nach Hause kommen soll, ich werde erwartet.«

»Möchten Sie gern jemanden anrufen?«, fragte ich und suchte in der Tasche nach dem Handy.

»Ich fürchte, ich weiß die Nummer nicht«, gestand sie kleinlaut und sah unglücklich hinüber zur großen Uhr am Turm der Strandaufsicht, auf der es bereits kurz vor eins war.

»Wissen Sie was, ich bringe Sie heim. Sie lassen meine Bluse an, damit können Sie ruhig über die Straße gehen, und ich ziehe meine kurze Hose an. So sind wir beide nicht ganz, aber ziemlich straßentauglich.«

Sie sträubte sich noch eine Weile, doch schließlich gab sie nach und wir machten uns auf den Weg.

»Ist das nicht verrückt?«, fragte sie, als wir die Strandstraße kreuzten, »da laufe ich nackt über den Strand und finde nichts dabei; kaum auf der Straße, habe ich das Gefühl, alle starren mich an, weil ich nichts unter Ihrer schönen Bluse trage. Dabei kann man das gar nicht sehen. Oder doch?«

»Nein, nein«, beruhigte ich sie. »Bei Ihnen sieht sie aus wie ein Kleid. Steht Ihnen gut, Sie haben die richtigen Beine dafür. Sexy.«

Sie lachte und wirkte um Jahre jünger.

»Das ist ja traumhaft!«, entfuhr es mir, als sie eine Straße weiter ein Gartentor öffnete.

Das altmodische Haus nahm mich sofort für sich ein; der Straße bot es sich mit verglaster Veranda und blauer Tür zu hölzernen Sprossenfenstern unter einem tiefliegenden Dach dar. Ein bunter, von Stockrosen und Backsteinwegen durchzogener Garten mit einem weißgestrichenen Zaun umrahmte es, als wüsste er um seine Postkartenwirkung. Sie fingerte in einem der Blumenkästen herum und hielt schließlich einen Schlüssel in die Höhe.

»Damit ich ihn unterwegs nicht verlieren kann. Meine Nachbarn schimpfen deswegen mit mir«, sagte sie,  während sie aufschloss. »Das habe ich von meinem Mann übernommen. Bitte, kommen Sie.«

In der dämmerigen Diele hingen unzählige Bilder. Dicht an dicht erzählten sie von den Jahreszeiten in Garten und Landschaft. Obwohl alle in Schwarz-Weiß, meinte man, das Blaugrau des Meeres im Winterlicht, das strahlende Weiß des Sandes im Hochsommer, die zarten Rosa- und Grüntöne des Frühlings und das warme Rotgold des Herbstgartens zu sehen.

»Was für außergewöhnlich schöne Aufnahmen! Von Ihnen?«

Ein liebevoller Blick streifte die Wände, bevor sie antwortete.

»Meinem Mann. Er sagte immer«, sie nahm eines der zarten Frühlingsbilder von der Wand und hielt es mir hin, »ein gutes Foto trägt die Farben in sich, ohne sie abzubilden. Farbfotos fand er ordinär.«

Das fand ich bei aller Bewunderung für die Bilder doch etwas stark und runzelte unwillkürlich die Stirn, woraufhin sie mir das Bild wieder aus der Hand nahm und an seinen Platz zurückhing.

»Ich denke«, sagte sie, »es war eine Schutzbehauptung. Er konnte schon lange vor der völligen Erblindung Farben nicht mehr richtig sehen.«

Sie bat mich, es mir im Wohnzimmer bequem zu machen und ging die Treppe hinauf, um sich anzukleiden. Der altmodische Eindruck setzte sich im Inneren des Hauses nicht fort. Im Gegenteil, die Räume waren von einer Großzügigkeit und Modernität, die man nicht vermutete, wenn man die Diele betrat. Ohne trennende Wände gingen Wohn-, Esszimmer und Küche ineinander über, drei doppelflügelige Türen führten auf eine Terrasse, die sich über die gesamte Länge des Hauses erstreckte. Im Gegensatz zum Flur zogen hier nur wenige, dafür großformatige Fotografien die Aufmerksamkeit auf sich. Auch sie in Schwarz-Weiß. Ihr Mann musste trotz der nachlassenden Sehkraft über ein bemerkenswertes Auge verfügt haben. Oder gerade deswegen? Wer weiß, dachte ich, vielleicht schärft es die Sinne, wenn man ihren Verlust bewusst erleben muss.

Während ich wartete, betrat eine Frau nach flüchtigem Anklopfen das Haus, ohne ein Herein abzuwarten.

»Entschuldige, Margot, ich wurde aufgehalten«, begann sie und stutzte, als sie mich statt der erwarteten Hausherrin sah. »Oh, Besuch. Schwester Anja«, stellte sie sich vor und sah sich suchend um. »Geht es ihr nicht gut?« Sie wirkte besorgt.

»Alles in Ordnung«, sagte ich, mir unter ihrem fragenden Blick meiner unzureichenden Bekleidung bewusst werdend.

»Ah, Anja, ich habe schon befürchtet, ich hätte dich verpasst«, kam meine  neue Bekanntschaft einer weiteren Erklärung für mein Hiersein und meinen  Aufzug zuvor.

»Mir ist ein kleines Missgeschick passiert und Frau … ich weiß Ihren Namen gar nicht.«

»Seeburger«, stellte ich mich vor, nahm die angereichte Bluse in Empfang und zog sie über.

»Frau Seeburger war so freundlich, mir mit trockener Kleidung auszuhelfen.«

»Du sollst doch nicht immer allein an den Strand gehen! Sie ist wirklich zu unvernünftig, keine leichte Patientin, wirklich nicht! Man muss ständig auf sie aufpassen«, wandte sich die Schwester an mich.

Die Vereinnahmung war mir unangenehm, dies um so mehr, als ich ein unwilliges Zucken in den Zügen der solchermaßen auf ihren Patientenstatus Reduzierten erkannte. Ich erinnerte mich, im Garten eine Wäscheleine gesehen zu haben und fragte, ob ich die Sachen dort aufhängen sollte, die sich noch in meiner Tasche befanden. Ein dankbarer Blick wurde mir zuteil. Ich überließ die beiden ihrem Gespräch, sah mich nach dem Aufhängen noch im Garten um, bis ich ein mahnendes “Und leg dich bitte gleich hin, für den Erguss bringe ich nachher noch eine Salbe“ hörte. Kurz darauf fiel die Haustüre ins Schloss und Margot trat auf die Terrasse.

»Entschuldigen Sie bitte. Anja geht in ihrer Fürsorge manchmal etwas zu weit. Ständig will sie mich beaufsichtigt wissen, dabei komme ich ganz gut allein zurecht, fühle mich ganz fit.«

Eine Erschöpfung in ihrer Stimme, die ich bisher nicht wahrgenommen hatte, strafte sie Lügen, sie sah müde aus, die Sorge der Schwester war vermutlich nicht unbegründet. Einem Impuls folgend schlug ich für den nächsten Tag einen gemeinsamen Spaziergang vor, behauptete, des ständigen Rumliegens im Sand überdrüssig zu sein und ungern allein zu laufen. Nun müsse ich leider los, um einen Massagetermin nicht zu verpassen. Erfreut stimmte sie zu und wir verabredeten uns für den nächsten Vormittag. Ich versprach sie abzuholen, so käme ich auch noch einmal in den Genuss, mir Haus und Garten ansehen zu können.

»Sie haben es wirklich sehr schön hier«, sagte ich zum Abschied. »Von so einem Haus träumen viele.«

Sie lächelte und versprach, mir die Geschichte des Hauses zu erzählen, mit dem ihr Mann und sie sich tatsächlich einen Traum erfüllt hätten.

Ich ging zurück in mein Hotel, dem man das Bemühen um nicht zu erreichende Gemütlichkeit wohlwollend zugutehalten musste. Für meine Auszeit war es nur ein bedingt geeigneter Rahmen. Doch welcher Rahmen konnte dem schon gerecht werden.

In den folgenden Wochen besuchte ich sie jeden Tag, meist gingen wir zum Strand, liefen gemeinsam die Strecke, die sie zuvor an mir vorbeigeführt hatte. Es war kein langer Weg, mehr als drei Buhnen passierten wir nicht. Ich hatte sie nie auf den Strand kommen sehen, weil der Zugang, den sie wählte, hinter einer vorspringenden Düne lag. Bei unseren gemeinsamen Spaziergängen zog sie sich nicht aus, aus Rücksicht, wie ich vermutete. Sie sprach viel, genoss es, in mir eine Zuhörerin zu haben, der nichts des Erzählten bereits vertraut war. Ich erfuhr, dass sie keine Kinder hatte und sie das Haus gemeinsam mit ihrem Mann, einem Architekten, in fast verfallenem Zustand erworben hatten, Jahre und Unsummen in die Sanierung geflossen waren, bevor es bewohnbar war.

»Für ihn war das Haus nicht nur ein Projekt, es war sein Baby, sein Kind. Wissen Sie, Bettina«, wir siezten uns unter Verwendung des Vornamens, »wenn man keine Kinder hat, braucht man solche Projekte. Haben Sie Kinder?«, richtete sie eine ihrer wenigen Fragen an mich. Ich erschrak, schon lange war ich das nicht mehr gefragt worden. In unserem Freundeskreis wussten alle, dass wir nach Jahren den Versuch aufgegeben hatten.

Wie abweisend meine einsilbiges „Nein“ wirkte, hörte ich selbst. Doch Margot nickte nur und tätschelte mir kurz den Arm.

»Dann kennen Sie das ja.«

Ja, ich kannte es. Bei uns war es auch ein Haus gewesen. Ein ganz anderes, ein Neubau in einem teuren Wohngebiet, modern und funktional bis zur Perfektion, dabei trotzdem eine harmonische Ergänzung zu den Häusern der Nachbarschaft. Ein Jahr hatten wir mit den Architekten geplant, immer wieder Details verändert und die Gestaltung der Außenanlage berücksichtigt, die einen sanften, wie gewachsenen Übergang zu den bestehenden Gärten bilden sollte. Jonas kümmerte sich um die technische Ausstattung und die Finanzierung, ich um den Rest. Als wir einzogen, bildeten wir uns ein, einen Traum realisiert zu haben. Was alle unsere Freunde bestätigten. Schick, stilvoll und auf unauffällige Weise funktional, besser konnte man kaum wohnen. Doch eine perfekte Hülle will mit Leben gefüllt werden. So wie die Diele in Margots Haus, mit einer eigenen Sicht der Dinge, die nicht einem Lifestyle entspricht, der sich alle paar Jahre ändert und nach Neuerungen schreit, um nicht deplatziert zu wirken. An unseren Wänden hingen keine Fotos. An unseren Wänden wurden Bilder in Szene gesetzt.

»Für den Garten haben wir uns viel Zeit genommen«, erzählte sie, »haben ihn durch die Jahreszeiten beobachtet, bevor wir die Wege anlegten. Im Winter entwarf mein Mann Pläne, legte sie mir vor, erläuterte die verschiedenen Wirkungen, die möglichen Sitzplätze und deren Vorzüge, bevor er entschied, was davon er letztlich umsetzte. Mein Part dabei war mehr oder weniger unbedeutend. Er war der Fachmann, es wurde getan, was er für richtig hielt.«

Ich sah sie von der Seite an, noch nie hatte sie ein kritisches Wort über ihren Mann geäußert. Ihre Ehe, so hatte ich daraus geschlossen, war ebenso perfekt und harmonisch gewesen wie das Haus, in dem sie lebte. Zeiten der wortlosen Distanz oder, schlimmer noch, der wortlos versuchten und gescheiterten Nähe, kamen in meinem Bild von ihrem Leben nicht vor. Zu warmherzig sprach sie von ihrem Fred, der eigentlich Fred-Erik hieß, ein Bindestrichname, den er nicht mochte und doch für das Firmenschild genutzt hatte. Weil es in Messing graviert so herrlich intellektuell aussah: Fred-Erik Breust, Architekt.

Wir lachten herzlich, als sie die Anekdote erzählte.

»Er scheint ein kluger und liebenswerter Mann gewesen zu sein, ein besonderer Mensch«, sagte ich.

Zu meiner Verwunderung stimmte sie nicht direkt zu, sah einen Moment über den Strand, auf dem wir uns für eine Pause niedergelassen hatten.

»Ich glaube, wenn Sie ihn in jüngeren Jahren kennengelernt hätten, wäre er ihnen wenig sympathisch gewesen. Es war oft nicht leicht mit ihm. Er war sehr leistungsorientiert und wenig geduldig, mit einem Hang zur Arroganz. Wer nicht seiner Meinung war, war ahnungslos und gegen ihn.«

Eine Windböe fegte zielstrebig Sandkörner gen Osten und versuchte sich nicht minder engagiert an unseren Haaren.

»Es gab eine Zeit, da habe ich überlegt, ihn zu verlassen«, fuhr sie fort. »Doch dann erhielt er die Diagnose. Retinitis Pigmentosa. Unheilbar. Zuerst waren es nur Schwierigkeiten bei Dunkelheit, die er abtat. Erst als er das Farbsehen fast verloren hatte, ging er zum Arzt.«

»Wie lange hat es dann noch gedauert, bis er nichts mehr sah?«

»So genau kann man das nicht sagen, ein Rest von Licht und Schatten blieb ihm lange. Ich denke zwölf Jahre.«

»Zwölf Jahre, das muss schwer gewesen sein.«

»Ja, das war es. Für ihn und mich. Ich wusste anfangs nicht, ob ich aus Pflichtgefühl bleiben, mich noch weiter zurücknehmen könnte. Wie Sie sehen, blieb ich.«

»Wenn Sie von ihm erzählen, hört es sich so an, als hätten Sie noch sehr glückliche Jahre miteinander verbracht. Trotz der Belastung durch die Blindheit.«

»Wegen der Blindheit«, korrigierte sie mich lächelnd.

»Wegen?« Sollte sie seine Abhängigkeit genossen haben? Das passte nicht in mein Bild von ihr. Der Unmut, den ich bei der Vorstellung empfand, manifestierte sich als Jonas` Stimme in meinem Ohr, die mir vorhielt, viel zu leichtgläubig zu sein. ‚Dir kann doch jeder was vormachen.’ Ich schüttelte den Kopf, um sie los zu werden.

»Kaum zu glauben, nicht wahr?«, reagierte Margot darauf; ich ließ sie in dem Irrglauben, es hätte ihr gegolten. »Er veränderte sich mit der Diagnose. Erst wurde er einsilbig, dann begann er zu fotografieren. Wie alles, tat er es mit Präzision und einem hohen Anspruch, technisch ausgerichtet und wenig intuitiv. Anfangs dachte ich, das kann ja heiter werden, jetzt sucht er sich auch noch ein visuelles Hobby. Doch nach und nach begann er … anders zu sehen, bewusster. Wissen Sie, was ich meine? Er … er nahm sich Zeit zu sehen, berührte immer öfter, was er aufnehmen wollte, bevor er sich für Beleuchtung und Blende entschied. Später, als er schon lange gar nichts mehr sah, erzählte er mir, dass er so versucht hatte ein Gefühl für die Textur und Dimension zu bekommen, die er immer weniger einschätzen konnte, weil Farben und Konturen verschwammen. Er hat es nicht gesagt, doch ich glaube, er hat sein Berühren und Begreifen genauso perfektioniert, wie alles, was er im Leben getan hat. Er konnte sich auf eine Sache so enorm konzentrieren, dass er alles andere um sich vergaß.«

Sie sah mich an.

»Sie glauben gar nicht, wie mich das in jungen Jahren manchmal gefuchst hat. Ständig musste man ihm Dinge mehrfach sagen, weil man nicht sicher sein konnte, dass sie zuvor zu ihm durchgedrungen waren. Oft habe ich ihn beschimpft, er täte nur so, damit ich ihn nicht mit unangenehmen Aufgaben belästigte und sie lieber selbst erledigte.«

Eine erste, tiefhängende Wolke verdunkelte die Sonne, der Wind nahm Anlauf und bewies, dass es ohne Sonne zu kalt war, um lange im Sand zu hocken. Zumindest für Margot, die schnell fror und einmal ausgekühlt nur schlecht wieder warm wurde. So viel hatte ich schon mitbekommen. Auch, dass sie nach den Spaziergängen unbedingt ruhen musste, was sie stets zu verbergen versuchte. So erfand ich Massage- und Kosmetiktermine oder Anrufverabredungen, die ich gern in der Ruhe des Hotels erledigen wollte, um sie rechtzeitig für Schwester Anjas Besuch und die notwendige Pause zu Hause abzuliefern. Oft gegen mein Bedürfnis, mich weiter mit ihr zu unterhalten. Denn ohne sie wurde mir immer klarer, dass sich meine Zeit auf der Insel dem Ende näherte und ich noch immer nicht wusste, was ich in meinem Leben ändern wollte. Nicht einmal die Antwort auf die Frage, warum ich das wollte, war mir bisher gelungen.

Unter einem sich rasch verdunkelnden Himmel brachen wir auf und gelangten gerade noch vor den ersten Tropfen an ihre Haustür. Ich beeilte mich, ins Hotel zu kommen, wo ich den regnerischen Nachmittag diesmal tatsächlich für eine Massage nutzte. Am Abend klarte es auf, der nächste Tag würde wieder schön werden.

Als ich sie abholen wollte, traf ich nicht weit vom Haus auf Schwester Anja, die ihr Fahrrad neben mir zum Stehen brachte.

»Frau Seeburger, zu Ihnen wollte ich gerade.«

Ich wunderte mich. Woher wollte sie wissen, wo ich zu finden war?

»Frau Breust, Margot, bat mich ihnen auszurichten, dass sie heute nicht spazieren gehen kann. Es geht ihr nicht gut, sie ist ganz wackelig auf den Beinen, hat sich übernommen. Diese Strandrennerei bringt sie eines Tages noch um.«

Mein schlechtes Gewissen hätte den missbilligenden Blick nicht gebraucht, mit dem ich bedacht wurde. Ich fühlte mich schuldig, Margot mit meiner Begleitung zu Ausflügen ermutigt zu haben, statt ihr zur Schonung zu raten.

»Kann ich sie besuchen?«, fragte ich. »Oder denken Sie, das wäre auch zu anstrengend?«

Solchermaßen in ihrer Kompetenz gefordert, glätteten sich Anjas Züge und machten einem abwägenden Stirnrunzeln Platz.

»Doch, ich denke, das geht. Sie dürfen sich nur nicht von ihr bedienen lassen. Das wird sie versuchen, ob Sie wollen oder nicht!«, erstickte sie meine versuchte Beschwichtigung im Keim. »Sie ist stur wie ein Panzer. Wenn sie nicht sitzen, besser noch liegen bleibt, gehen Sie bitte möglichst schnell wieder.«

Unter dem burschikosen Ton erkannte ich echte Besorgnis und versprach, Margot nicht zu beanspruchen und wenn es sein musste, nach einem kurzen Hallo wieder zu gehen.

»Gehen Sie durch den Garten, ich habe sie auf die Terrasse gebracht«, sagte sie im Aufsteigen. »Dort ist sie bei diesem Wetter am liebsten, wenn sie nicht gerade durch den Sand stapft. Sollte etwas sein, meine Nummer liegt in der Diele auf dem Schränkchen!«

Mit diesen Worten trat sie in die Pedale und ließ mich stehen.

Margot lag, bequem von Kissen gestützt, im lichten Schatten des Terrassenbaumes, ein Beistelltischchen mit allem Notwendigen sowie einer zarten, in einer kleinen Vase stehenden Blüte zur Seite. Anja hatte es geschafft, einen Eindruck von genießerischer Entspannung statt Krankheit zu schaffen. Margot freute sich sichtlich über meinen Besuch und unternahm entgegen Anjas Vermutung keinerlei Versuch, mich zu bewirten. Nach einer Weile des Plauderns schloss sie die Augen und verstummte. In dem sich ausbreitenden Schweigen betrachtete ich sie und wunderte mich über die Vertrautheit und Zuneigung, die ich für eine Frau empfand, die ich vor drei Wochen noch nicht gekannt hatte. Sie war eingenickt, die im Einschlafen noch flatternden Lider hatten sich beruhigt, die Hände auf der Decke entspannt. Ich griff nach dem auf dem Tischchen liegenden Buch und begann zu lesen. Plötzlich wurde sie unruhig, drehte den Kopf hin und her, fuhr mit den Händen über die Decke, als suche sie etwas. Ich schob den Stuhl näher an ihre Liege und nahm ihre Hand. Sie griff zu, zog sie sich an die Brust und kam langsam wieder zur Ruhe.

»Sie sind ein sehr lieber Mensch, Bettina«

Die um den Baum wandernde Sonne hatte mich auf meinem Platz geblendet, weswegen ich die Augen geschlossen und nicht mitbekommen hatte, dass sie aufgewacht war. Wortlos erwiderte ich den dankbaren Druck ihrer Hand.

»Wissen Sie, wie lange mir niemand mehr die Hand hielt?«

Ich antwortete nicht. Mit einem Mal wusste ich, warum ich auf die Insel gekommen war. Mir hatte ebenfalls schon lange niemand mehr die Hand gehalten. Man hatte sie mir gereicht, mal freundlich, mal höflich, mal hilfsbereit, doch gehalten hatte sie schon lange niemand mehr. Jonas hielt nichts davon, fand es kitschig. Sicher, er berührte mich, wenn wir intim miteinander waren. Zielgerichtet und routiniert. Außerhalb sexueller Begegnung jedoch gingen wir sehr distanziert, nahezu körperlos miteinander um.

»Einen Blinden berührt man oft«, sagte sie und streichelte mit der freien Hand über meinen Handrücken. Mit leiser Stimme erzählte sie mir von der neu gewachsenen Innigkeit, die sich mit Fortschreiten der Erkrankung ihres Mannes entwickelt hatte.

»Er musste wohl erst seine Sehkraft verlieren, um Berührungen für sich zu entdecken. Am Ende liebte er sogar die Berührung des Windes und des Wassers; so sehr, dass wir begannen, nackt zu baden. In unserem Alter! Anfangs habe ich mich geschämt, mich gefragt, was die Leute wohl denken, wenn sie uns Arm in Arm am Strand  und vor allem im Wasser sahen. Ich musste ihn immer sehr nah bei mir haben, damit er nicht fiel oder von den Wellen untergetaucht wurde, er sah sie ja nicht kommen.«

Die Schwäche zwang sie zu einer Pause, in der sie meine Hand nicht losließ.

»In seinen letzten Monaten schlief er sehr unruhig« nahm sie den Faden wieder auf, »sein Puls raste von jetzt auf gleich los, er begann zu schwitzen und zu zittern. Wenn ich ihn in den Arm nahm, schob er mir das Nachthemd hoch, schlang die Arme um meinen Leib und barg das Gesicht an meiner Brust. Erst dann beruhigte er sich.«

Von der Straße hörte man eine Glocke läuten.

»Der Eiswagen!«, stellte sie freudig fest.

»Soll ich uns eins holen?«, fragte ich. Sie nickte und ich lief vor zur Straße.

»Dass ich Ihnen so etwas erzähle.« Sagte sie, als wir einträchtig unser Eis lutschten. »Sie müssen mich unmöglich finden.«

»Ihre Strandspaziergänge …«, begann ich eine Frage, die ich schon lange stellen wollte.

»Sind eine Erinnerung an schöne Zeiten«, vollendete sie meinen Satz. »Wenn ich den Wind auf der Haut spüre, ist mir Fred wieder nah.« Sie seufzte. »Aber machen Sie das mal einer Frau wie Anja klar.«

Wir lachten und verbrachten noch einen beschaulichen Nachmittag miteinander. Ich las ihr aus dem Buch vor, als ich den Eindruck hatte, sie sei zu müde zum Sprechen. Als Schwester Anja zur abendlichen Visite kam, war sie mit dem, was sie vorfand, sehr zufrieden. Ich überließ Margot ihren fürsorglichen Händen und versprach am nächsten Tag wiederzukommen.

Margot erholte sich wieder. An meinem vorletzten Urlaubstag versuchten wir einen Strandspaziergang, mussten jedoch einsehen, dass es noch zu anstrengend für sie war. Ich verließ sie ungern, sie, das Haus, die Stunden auf ihrer Terrasse waren mir ans Herz gewachsen. Auch ihr fiel es schwer, der Abschied war entsprechend herzlich. Selbst Anja, in deren Achtung ich so gestiegen war, dass sie mir das Du anbot, umarmte mich und äußerte die Hoffnung mich wiederzusehen.

Jonas holte mich am Bahnhof ab. Befangen, beinahe ängstlich musterte er mich und hörte sich später aufmerksam meinen Bericht an. In den folgenden Wochen telefonierte ich täglich mit Margot und manchmal, ohne dass sie davon wusste, mit Anja. So war ich auf den Anruf vorbereitet. Ob ich kommen könne, fragte Anja nur. Jonas brachte mich zum Zug und nahm mich zum Abschied fest in den Arm.

»Ruf an, wenn ich kommen soll«, sagte er.

Ohne Umweg ging ich vom Bahnhof zum Haus. Anja hatte mich gewarnt, Margot sei in den wenigen Wochen sehr eingefallen, ich solle nicht erschrecken, wenn ich ins Schlafzimmer käme. Ich tat es dennoch. Der winzige Kopf auf dem weißen Kissen konnte kaum zu der bemerkenswert großen Frau gehören, die mir auf dem Strand aufgefallen war. Sie freute sich, mich zu sehen, war aber schon zu schwach, um viele Worte zu machen. Ich drängte sie nicht zum Sprechen, blieb bis zum Abend und beriet mich mit Anja, ob sie es für gut halten würde, wenn ich vorschlüge, im Haus zu übernachten.

»Oder denkst du, sie wird dann das Gefühl haben, ich wolle sie nicht allein lassen, weil sie zu sterben droht?«

»Sie weiß, dass sie stirbt, Bettina. Ich denke, sie wird froh sein, dabei nicht allein zu sein«, sagte sie auf die nüchterne Art, die nur Menschen an den Tag legen können, für die der Tod keine neue Erfahrung ist.

Ich blieb. Es dauerte drei Tage, bis Margot endgültig einschlief. Ihre Hand in der meinen. Als sie abgeholt wurde, strahlte die Sonne von einem wolkenlosen Himmel. Ich rief Jonas an, bat ihn, zur Beerdigung zu kommen und ging an den Strand, wo der Wind versuchte, mein Haar gen Osten zu treiben. Ich ließ ihn gewähren, sah lange aufs Meer hinaus, bevor ich mich auszog und mit meinen Kleidern unter dem Arm an der Wasserlinie entlangging.

 

© Text und Bild: Kirsten Marter-Dumsch, 2016


 

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