Der Auftrag

Was passiert, wenn man sich von Bildern zu einer Geschichte inspirieren lassen soll? Was, wenn die Bilder dann nicht einfach irgendwelche Bilder sind, sondern in einem besonderen Kontext, einem besonderen Museum hängen? In diesem Fall dem Zentrum für verfolgte Künste in Solingen.

Dieser Frage ist die Solinger Schreibwerkstatt in 2018 erstmalig nachgegangen. Dies mit so großem Erfolg, dass 2019 eine zweite Runde folgte und in diesem Jahr eine dritte. „Angedichtet – Kunst, die aus dem Rahmen fällt“, ist ein Kooperationsprojekt zwischen der Solinger Schreibwerkstatt und dem Museum, das dabei nicht nur als Inspirationsquelle, sondern auch als Lesungsort fungiert. Ich selbst habe in den zurückliegenden Jahren keinen fiktiven Text beigesteuert, obwohl es sehr wohl ein Bild gab, das mich bereits bei unserem ersten Besuch gepackt hat. Aber irgendwie wollte keine Idee so richtig funktionieren. Erst bei meinem letzten Besuch hat sich ein Gedanke eingestellt, der tragfähig genug schien. Ob er es tatsächlich war, müsst ihr entscheiden. Auslöser war eine leere Staffelei, die dort zu verschiedensten Präsentationszwecken benutzt wird. Manchmal ist es schon seltsam mit der Inspiration.

Kurze Info: Von den in den in der Geschichte erwähnten Bildern gibt es nur jenes, das die Protagonistin bei ihrem Museumsbesuch gesehen hat und beschreibt.  Ein Porträt Jula Isenburgers. Gemalt hat es ihr Mann Eric Isenburger, ein deutsch-jüdischer Maler, der Deutschland 1933 verlassen hat und via Frankreich letztlich nach Amerika emigrierte. Dort lebte er ab 1941 bis zu seinem Tod 1994.  Alles andere in dieser Geschichte ist, wie in fast allen meinen Geschichten, absolut fiktiv.

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Lesung

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»Ja?« Die Frau maß sie mit einem derart misstrauisch unfreundlichen Blick, dass sie unwillkürlich einen Schritt zurücktrat. Na prima, dass er sich einen Hausdrachen hielt hatte ihr niemand gesagt. Sie straffte die Schultern
»Nele Wenner, Herr Eisenberg erwartet mich.«
»Ah.« Der Drachen nickte, drehte sich um und verschwand im Dämmerlicht des Flures. Verunsichert, ob sie nun eintreten oder vor der Tür auf den Hausherrn warten solle, entschied sich Nele, ihr zu folgen. Besonders einladend wurde man hier nicht empfangen. Egal, schließlich wollte sie sich mit dem Hausherrn und nicht mit der Haushaltshilfe unterhalten.
»Die Tür!«
»Entschuldigung.« Herrje, jetzt hatte sie es sich mit der Dame sicher ganz verscherzt. Hastig schloss sie die Tür, um im nächsten Moment im Dunkeln zu stehen. Außer an Worten wurde offensichtlich auch an Beleuchtung gespart. Vorsichtig tastete sie sich an der Wand lang, froh, nicht auf Bilderrahmen oder andere Dinge zu stoßen, die eventuell empfindlich auf ihre Finger reagierten. Wer weiß, was ihr dann blühen würde.
»Passen sie auf, dass sie nichts umstoßen.«
Leichter gesagt, als getan, wenn man kaum etwas sah. Am Ende des Flurs wurde eine Tür geöffnet. Im hereinfallenden Licht erkannte Nele, dass nur der Zufall sie davor bewahrt hatte über die an der Wand lehnenden Leinwände zu stolpern. Stapelweise standen sie, die Rücken zum Raum, über die Länge des Flures aneinandergereiht. Sie blieb stehen und sah sich um. Die Wände waren von einem tristen grau und völlig kahl.
»Wird gerade umgehängt?«
»Nein.«
»Nicht? Aber … « Jetzt erkannte sie, dass es an den Wänden weder Staubränder von ehemaligen Bildern gab, noch irgendwelche Haken oder ein Aufhängungssystem zu sehen waren. Hier hatten eindeutig noch nie Bilder gehangen. Wie merkwürdig. Das Haus eines Malers hatte sie sich anders vorgestellt. Die Frau stand abwartend in der Zimmertür und starrte auf die Leinwände, als handele es sich um gebrauchte Pizzakartons, die sie lieber heute als morgen entsorgen würde. Wenn sie nur dürfte. Kopfschüttelnd löste sie sich von dem Anblick und stieß die Tür noch ein Stück weiter auf. Mehr Einladung war wohl nicht zu erwarten. Nele ging an ihr vorbei und betrat einen hohen, hellen Raum, das Atelier vermutete sie.

»Ich sag ihm, dass sie da sind.«
Die Tür wurde geschlossen und Nele sich selbst überlassen. Neugierig sah sie sich um. Auch hier lehnten unzählige Bilderstapel an ansonsten kahlen Wänden. Weißen Wänden. Bis auf eine sehr große Staffelei, die vor der bodentiefen Fensterfront stand, war der Raum leer. Keine Möbel, keine Arbeitsmaterialien, keine Farbklekse, nichts, das darauf hindeutete, das hier gearbeitet wurde, bzw. jemals gearbeitet worden war. Sie sah hinaus in den herbstlichen Garten, in dem die Sonne die regennassen Bäume aufleuchten lies. Ein schleifendes Geräusch, dem ein trockenes Husten folgte, veranlasste sie, sich umzuwenden. Das war Eisenburg? Sie spürte, wie ihr das vorbereitet Lächeln staunend verrutschte. Klein, spindeldürr und milchgrau saß er mit vorgeschobenem Kopf und merkwürdig verdreht in einem elektrischen Rollstuhl, über die Beine eine karierte Wolldecke unter der braune Filzpuschen hervorschauten. Er sah aus wie das Klischee des gebrechlichen Alten. Absolut ungewöhnlich jedoch waren die dunklen Augen, mit denen er sie forschend musterte. Sie dachte an die verblassten, müden Augen ihrer Großmutter. Was für ein Unterschied, der Mann konnte unmöglich beinahe hundert sein.
»Sie sehen überrascht aus, Frau Wenner.« In den Augen blitzte es. »Hat man ihnen nicht gesagt, dass ich ein alter Mann bin?« Auch seiner Stimme war das hohe Alter nicht unbedingt anzuhören, sie klang noch bemerkenswert fest. Lediglich ein bisschen heiser, aber das lag vielleicht am Husten. Jetzt zogen sich die buschigen Brauen unwillig zusammen. Meine Güte, sie benahm sich unmöglich.
»Herr Eisenberg!«  Sie streckte ihm die Hand entgegen. »Entschuldigen Sie, ich bin nur überwältigt. Sie können sich nicht vorstellen, wie sehr ich mich darauf gefreut habe, Sie kennenlernen zu dürfen.«
Zögerlich, als wöge er die Risiken ab, nahm er die angebotene Hand an.
»So, haben Sie das?« Jetzt sah er spöttisch aus. Ok, mit der üblichen Bewunderungsmasche kam man bei ihm nicht weit.
»Und warum, wenn ich fragen darf.« Er hustete und fuhr mit dem Rollstuhl ein Stück weiter auf sie zu.
Sie überlegte. Wenn sie jetzt das Falsche sagte, beendete er das Interview vielleicht bevor es begonnen hatte. Meier aus der Kultur hatte sie gewarnt, Eisenberg sei ein Kotzbrocken, er habe ihn, Meier, mal rausgeschmissen, weil ihm eine seiner Fragen nicht gepasst habe. Aber Meier war auch ein Egomane, der sein Gegenüber nur brauchte, um sich selbst in ein gutes Licht zu rücken.
»Ich mag ihre Frauenbilder«, sagte sie, froh, dass ihr etwas eingefallen war, das der Wahrheit entsprach. Auch wenn es nur drei oder vier Bilder waren, die sie bei ihrem Museumsbesuch hatte sehen können. Die Vorbereitungszeit war einfach zu knapp gewesen.
»Meine Frauenbilder, so so. Und was daran? Oder welche?«
Er gab sich nicht die mindeste Mühe zu verbergen, dass er sie auf die Probe stellte.
»Im Original habe ich nur leider wenige gesehen«, beeilte sie sich zu relativieren.
»Wie auch, die meisten sind hier, zurückgekauft.«
Er sah kurz zur Stirnseite des Raums, dann wieder zu ihr. Seine Augen waren wirklich bemerkenswert.
»Die Augen«, sagte sie, »ich mag die Augen, die ihre Figuren haben. Sie sind so … ausdrucksvoll, obwohl sie gar nicht … nicht fotorealistisch sind.«
Er lachte auf.
»Nicht fotorealistisch. Köstlich! Sie haben keine Ahnung von Malerei, stimmt’s? Glauben Sie, etwas müsste fotorealistisch sein, um ausdrucksstark zu sein? Was für ein Müll! Malerei kann viel mehr als Fotografie. Oder hat Ihr, Sie haben bestimmt doch auch so ein Ding, hat Ihr Telefondings schon je genau das abgebildet, was sie gesehen haben? Na?«
»Nicht wirklich«, räumte sie ein. Es stimmte schon, erst neulich hatte sie wieder enttäuscht festgestellt, dass ein Bild so gar nichts von der Stimmung hatte, die sie hatte einfangen wollen.
»Nicht wirklich, aha! Und wissen Sie auch, warum das so ist? Na, na? «
Er war laut geworden. Das lief nicht gut. Warum giftete er sie so an? Vielleicht war Meier doch nicht selbst schuld an seinem Rausschmiss gewesen. Eisenberg sah sie aus zusammengekniffenen Augen an und stieß die Luft durch die Nase aus, bevor er fortfuhr.
»Nein, das wissen Sie nicht, weil Sie keine Ahnung haben. Weil man nur malen kann, wenn man etwas sieht und fühlt. Weil Sehen und Fühlen untrennbar miteinander verbunden sind. Was denken Sie fühlt Ihr Telefon? Nichts, sage ich Ihnen. Nichts. Und fotorealistisches Malen, lassen sie sich das gesagt sein, ist eine Illusion. Die Illusion schlechthin, weil sie Ihnen eine Realität vorgaukelt. Ich kann gar nicht fotorealistisch malen, weil ich nicht fotorealistisch sehe. Maler sind Menschen, keine Platten, die belichtet werden. Verstehen Sie? Menschen! Ich mag Ihre Frauenbilder. Ja, meine Frauen sind aus Fleisch und Blut. Weil ich sie empfunden habe, nicht nur abgebildet. Verstehen Sie das? Haben Sie eine Vorstellung davon, wie schwer es ist, einen Menschen einzufangen, so zu malen wie er ist? Macht doch heute keiner mehr. Diese ganze egozentrische Mischpoke, die nur noch abstraktes Zeug malt. ‚Ich male Farbe, Farbe ist Emotion.Pah! Nur nicht auf einen anderen einlassen. Lassen Sie mich raten, Sie mögen es abstrakt, diesen Stimmungsmist, nichts als dekorativer Stimmungsmist!« Er fuchtelte erregt in Richtung der Staffelei, durch die der sonnige Garten wie ein Gemälde wirkte. »Sie würden sich auch ein paar rotorange Farbspritzer aufhängen, wenn man Sie Ihnen als Herbstbild verkauft.«

 Ein rasselnder Husten stoppte seinen Ausbruch und schüttelte ihn dermaßen, dass er kaum noch Luft bekam. Grundgütiger, Sie sah sich nach etwas um, mit dem sie ihm helfen konnte. Ein Glas Wasser oder so. Nichts, es gab einfach nichts in diesem Raum.
»Soll ich die Haushälterin rufen?«
Er winkte ab.
»Geht gleich wieder«, keuchte er. »Gleich. Darf mich nicht aufregen. «
Hilflos sah sie zu, wie er langsam wieder zu Atem kam. Warum zum Henker hatte sie sich nur dieses Interview aufhalsen lassen. Noch dazu so kurzfristig. Ja, sie hatte keine Ahnung von Malerei, aber die Bilder hatten sie wirklich berührt. Dazu die Chance, einen der letzten Zeitzeugen zu treffen.
»Geht gleich wieder … gleich wieder.«
Na hoffentlich. Warum musste er sich auch so aufregen? Es gab überhaupt keinen Grund dazu. Weiter angiften lassen würde sie sich jedenfalls nicht. Dann gab es halt kein Interview. Meier würde frohlocken.

Endlich ließ der Husten nach. Erschöpft sank er zurück und schloss die Augen. Zum ersten Mal konnte sie ihn ungestört betrachten. Mit geschlossenen Augen unterschied er sich in Nichts von den Alten, denen sie bei der Reportage über Altenheime begegnet war. Die mageren, von Altersflecken übersäten Hände lagen zuckend auf der Decke in seinem Schoß. Der Hals schien den kleinen Kopf kaum tragen zu können, so dünn war er. Nase und Ohren wirkten übergroß, über die Wangen zogen sich tiefe Falten, aus denen einzelne Haare wuchsen. Er hätte eine Rasur vertragen können. Ob die Haushälterin ihn rasierte? Sie spürte, wie ihr Ärger einem diffusen Mitgefühl wich. Wie müde er aussah. Todmüde, er sah todmüde aus. Sie ging neben dem Rollstuhl in die Hocke. Aus irgendeinem Grund hätte sie gern seine Hand genommen. Nein, lieber nicht.
Er öffnete die Augen und sah sie an.
»Nicht so leicht mit mir«, sagte er und lächelte matt.
Sie musste lachen und fühlte sich auf einmal nicht mehr befangen. »Stimmt. Einfach geht anders.« Sie ließ sich auf den Boden fallen und rückte ein Stück von ihm ab, um ihn bequemer ansehen zu können. Eine Weile schwiegen sie einträchtig.
»Darf ich sie etwas fragen?«
»Dafür sind Sie ja wohl gekommen.«
Sie wartete ab, bis der Husten, der seiner Antwort gefolgt war abgeklungen war.
»Warum gibt es hier keine Möbel?«
»Hier im Atelier?« Er sah sich um, als würde ihm das gerade zum ersten Mal auffallen. »Hier gibt es Bilder. Bilder brauchen keine Möbel.«
»Sind das alles Ihre, also von Ihnen gemalte Bilder?«
Wieder sah er sich um. »Ja.« Er nickte. »Alles meine.«
Ob er ihr sagen würde, warum er sie alle mit der Bildseite zur Wand aufgestellt hatte, warum keines aufgehängt worden war?
»Stimmt es, dass sie seit vielen Jahren ihre Bilder aufkaufen?«
»Wie alt sind Sie?«, fragte er anstatt zu antworten.
»31.«
»31! Und da interessieren Sie sich für so einen alten Kerl wie mich? Wissen Sie, was ich mit 31 gemacht habe?«
Sie lächelte, das wusste sie zufällig. Auch wenn er ganz offensichtlich versuchte, sie abzulenken, ging sie auf die Frage ein.
»Sie haben ein Bild gemalt. Eins, das mich sehr berührt hat. Ich weiß leider nicht, wie es heißt. Das Bild einer blonden Frau, die sich zur Seite wendet. An vielen Stellen haben Sie die Farbe wieder abgekratzt, was ihr eine unglaubliche … Fragilität verleiht. Und Melancholie. Trotzdem empfand ich sie als stark. Ich kann gar nicht sagen warum, obwohl ich es lange betrachtet habe. Die Hände fand ich eigenartig, so merkwürdig verdreht. Erst habe ich gedacht, es ist eine fatalistische, gottergebene Geste. Aber dann habe ich sie nachgestellt.« Sie lächelte verlegen. »Das mache ich oft, wenn ich eine Geste nicht verstehe. Und da habe ich gespürt, dass es einen Unterschied macht, ob man die Handflächen so,« sie legte die Hände im Schoß mit gekreuzten Handflächen aufeinander, »oder« sie wendete die obenliegende Hand, »wie auf dem Bild, mit den Handflächen nach oben hält. Ich weiß nicht, ob ich das richtig ausdrücke, aber so wie Sie es gemalt haben, hat es etwas … etwas Bittendes. Sehr verhalten, ganz vorsichtig, so als habe sie Sorge zurückgewiesen zu werden.«

Das Gesicht in die Hand gestützt sah er sie ernst an. Es dauerte, bis er zu sprechen begann.
»X Mal habe ich das Bild überarbeitet.« Er sah zum Fenster hinaus. »Jedes Mal, wenn sie wieder Model saß, hatte sie sich verändert. Jedes Mal. War blasser, stiller, weniger geworden. Sie war sehr schön, wissen Sie. Stark. Voller Leben. Das haben sie ihr gründlich genommen mit diesem vermaledeiten Stern. Alle haben nur noch auf den Stern geglotzt, auf das Etikett: Jude. Was für eine simple Idee, Menschen zu etikettieren, um sie zu entmenschlichen. Niemand hat sie mehr als das gesehen, was sie war. Schön, klug, einfühlsam, großzügig, … All das verschwand hinter dem Stern. Menschen verblassen, wenn sie nicht mehr als Mensch gesehen werden, wissen Sie das? Sie starb im Grunde lange bevor sie sie tatsächlich getötet haben. Lange.« Wieder glitt sein Blick über die Bilderrücken. »Und ich?« Er beugte sich ihr entgegen. »Ich dachte, ich kann etwas dagegenhalten, kann sie festhalten, indem ich sie male.« Er lachte bitter und schlug sich mit der Hand auf den Oberschenkel. »Nichts habe ich getan. Feige meine Haut gerettet habe ich.«
»Aber was hätten Sie denn tun können? Es war doch damals auch für Sie gefährlich. Viele ihrer Kollegen hat man inhaftiert und ermordet.«
»Ja, das war es. Aber viele von uns sind davongekommen. Und nicht nur das, wir haben aus unserer Flucht Kapital schlagen können. Bis heute. Unsere Bilder werden gut gehandelt, wir hängen in Museen; nicht immer, weil sie gut sind übrigens. Nein, sie sind Mahnmale, die man bei Bedarf ins Rampenlicht stellt. Weil es sich gut macht, das Erinnern wach zu halten. Man sich gern mit dem Erinnern schmückt, wenn es opportun ist.«
»Aber es ist wichtig sich zu erinnern. Sie können den Leuten nicht vorwerfen, dass sie nicht wollen, dass sich die Geschichte wiederholt.«
»Ach Geschichte, Mädchen! Wenn ich das immer höre.« Er sank in seinem Stuhl zusammen. »Ich werde jetzt bald hundert. Wer, denkst du, hat in dieser Zeit Geschichte gemacht? Was waren das für Leute, die ‚Geschichte geschrieben haben‘, wie man so gern sagt.«
In dem Blick, den er ihr zuwarf, lag etwas Lauerndes. Er wollte jetzt aber nicht, dass sie ihm alle möglichen Namen aufzählte, oder?
»Ganz allgemein, meinen Sie? Was sie für Funktionen hatten?«
»Genau, was waren das für Kerle, was für Frauen?« Er wedelte mit der Hand, wie um sie aufzufordern, endlich loszulegen. »Warum, wie konnten sie Geschichte machen?«
Sie hatte keine Ahnung, worauf er hinauswollte, aber bitte, wenn es ihm so wichtig war. »Politiker, Industrielle, Wissenschaftler, Intellektuelle, … Leute, die in irgendeiner Form Macht und Einfluss hatten.«
»Nein, Mädchen!« Er beugte sich weit nach vorn und fixierte sie. »Geschichte wird nicht von ein paar Wenigen gemacht. Vergiss es! Geschichte entsteht auf der Straße, im Alltag. Wir, du, ich, der Bäcker, der Fleischer, … wir machen Geschichte. Wir alle haben dazu beigetragen, dass Menschen zu Tausenden verblasst sind.« Seine Augen bekamen einen fast fiebrigen Glanz. »Ganz egal, ob Bäcker oder Fleischer, Zeitungsjunge oder Journalist, Soldat oder Zivilist, jeder von uns trägt zur Geschichte bei. Hitler und seine Schergen wären nichts gewesen ohne die Massen, die ihnen hinterhergelaufen, ihre kranke Ideologie alltagstauglich gemacht haben. Massen, denen das Gefühl für Anstand abhandengekommen ist. Anstand, verstehst du? Und auch die, die nicht mitgemacht haben, haben dazu beigetragen. Es gibt kein Nichthandeln. Auch wer schweigt handelt.« Er holte rasselnd Luft. »Oder, um vor der eigenen Tür zu kehren, wer abhaut, um seine Haut zu retten.«
»Und wenn Sie geblieben wären? Gut möglich, dass es Sie dann heute nicht mehr gäbe.«
»Was vielleicht nicht so schade wäre.« Er fuhr sich mit der Hand über das Gesicht. Bei allem Respekt, jetzt übertrieb er es mit dem Selbstmitleid.
»Das hat ihre Frau sicher anders gesehen, ihr waren sie lebend vermutlich lieber.«
»Ja, das stimmt. So wie sie mir.« Er tastete nach dem Ring an seinem Finger. »Als wir gegangen sind, war es wahrscheinlich auch schon zu spät. Viel früher hätten wir etwas tun müssen. Viel früher.« Seine Stimme war sehr leise geworden. »Aber wir haben geglaubt, es reicht zu malen, haben geglaubt, dass Bilder Macht haben können. Dass man mit Kunst etwas erreichen kann. Nichts kann Kunst. Nichts.«

Mit einem Mal glaubte sie zu wissen, warum in diesem Haus nie gemalt worden war, warum alle Bilder ihnen den Rücken zukehrten.
»Haben Sie darum nicht mehr gemalt, als sie nach Deutschland zurückgekommen sind, haben ihr eigenen Bilder aufgekauft? Weil Sie dachten, nichts ausrichten zu können?«
Er schloss die Augen und antwortete nicht. Sofort sah er wieder Jahrzehnte älter aus. Diesmal legte sie ihm die Hand auf den Arm. Was soll’s, dieses Interview lief eh völlig aus dem Ruder.
»Aber mich hat Ihr Bild berührt, nachdenklich gemacht. Nach so vielen Jahren noch. Das ist doch was.«Er drückte ihr kurz die Hand und schüttelte sie dann ab.
»Geh mal da vorn zu dem Stapel, da dem in der Mitte. Das zweite, nein, das dritte Bild von vorn, das kleinere, bring mir das.«
Sie tat worum er sie gebeten hatte und stellte fest, dass es sich um eine Variante des Portraits handelte, das sie im Museum gesehen hatte. Allerdings in kraftvollen, nicht wieder abgekratzten Farben. Eine schöne, beinahe strahlende Frau mit trotzigem Blick, die Arme vor der Brust verschränkt, sah sie an. So musste sie in einer der ersten Sitzungen ausgesehen haben. Es machte noch deutlicher, wie genial er eingefangen hatte, was mit ihr geschehen war.
»Es ist wunderschön.« Sie legte es ihm sacht in den Schoß.
»Sie war wunderschön.« Er strich mit den Fingerspitzen über das Bild. Dann nahm er es und hielt es ihr hin. »Ich schenke es dir.«
Bitte?! Das konnte unmöglich sein Ernst sein. Er konnte ihr doch nicht einfach so ein Bild schenken. Warum? Was versprach er sich davon? Sie hob abwehrend die Hände.
»Das kann ich nicht annehmen, das ist viel zu wertvoll. Ich darf es auch gar nicht.«
»Doch, Mädchen, das kannst du.«
»Aber …«
»Nichts aber, ich will das so. Es ist nur ein Bild, etwas Farbe auf Leinwand. Ganz egal, was andere sagen. Nu nimm schon, es ist verdammt schwer für einen alten Mann.«
Mit zitternden Armen hielt er es ihr weiter entgegen. Er meinte das tatsächlich ernst. Behutsam nahm sie es ihm aus den Händen. Was … Wie sollte sie das in der Redaktion erklären? Das ging alles gar nicht.
»Aber wenn du über mich schreibst, schreib darüber, dass wir nicht zulassen dürfen, dass Menschen verblassen. Schreib, dass man Menschen nicht etikettieren darf.« Er tippte gegen das Bild. »Schreib, dass man Menschen ansehen muss.« Wieder holte er rasselnd Luft und ließ sich gegen die Rückenlehne sinken.

»Geh jetzt, ich bin müde. Mit fast hundert tanzt man nicht mehr die Nächte durch. Ich gebe Marie Bescheid, dass ich dir das Bild geschenkt habe, sonst hetzt sie dir die Polizei auf den Hals. Sie hilft dir auch beim Einpacken.«
Damit drehte er den Stuhl und fuhr durch die Schiebetür hinaus.

Und jetzt? Mitnehmen konnte sie das Bild auf keinen Fall. Schade, es war wirklich schön. Sie stellte es auf die leere Staffelei und trat ein paar Schritte zurück, um es noch einmal mit etwas Abstand zu betrachten. Doch vor dem herbstbunten Garten und im Gegenlicht konnte sie kaum etwas erkennen. Sie rollte die Staffelei vor die Wand. Ja, das war besser. Sehr viel besser sogar, das war ein Titelbild. Sie zog die Kamera aus der Tasche.

Nachwort
Herzlichen Dank, dass ihr bis hierhin gelesen habt. Mir ist diese Geschichte ähnlich wichtig wie der Text, den ich über unseren Besuch im jüdischen Museum verfasst habe. Vermutlich ist es kein Zufall, dass ich sie in den Tagen geschrieben habe, in denen der 75ste Jahrestag der Auschwitz-Befreiung gefeiert wurde. Bewusst war es mir nicht. Aber das Unbewusste ist ja ein recht aktiver Schreibgehilfe.

Was mir hingegen beim Schreiben sehr bewusst war, ist mein zunehmender Verdruss über Umgangsformen (insbesondere in sozialen Netzwerken u.Ä.), die sich für mich durch einen Mangel auszeichnen: Den Mangel an Anstand und Respekt.
Die Art und Weise, wie an vielen Stellen mit Andersdenkenden/Andersfühlenden umgegangen wird, finde ich immer öfter fast unerträglich. Da wird beherzt abgewertet und beleidigt, wer es wagt eine andere Position zu vertreten, sei das Thema auch noch so unbedeutend. Von den wirklich drängenden Fragen ganz zu schweigen. Unsäglich, welche Kommentare beispielsweise in der Klimadebatte die Runde machen. Beleidigungen und Gewaltandrohungen bis hin zu Morddrohungen sind für Menschen in exponierter Stellung heute absolut alltäglich. Nicht wenige geben darunter auf.

Nichts, was geschieht, bleibt ohne Wirkung, hat Sommerset-Maugham einmal geschrieben. Dies gilt in alle Richtungen, auch für die Sprache, der wir uns bedienen. Das sollten wir uns immer wieder klar machen. Wer sein Gegenüber beständig Arschloch nennt, darf sich nicht wundern, wenn es sich irgendwann auch so verhält. Oder, um auf die Geschichte zurückzukommen, wer schweigend zusieht, wie Anstand und Respekt verkommen, trägt zum Verfall bei.
Die angeblich nicht mehr vorhandene Meinungsfreiheit, die neuerdings gern beklagt wird, ist kein rechtliches Problem. Niemand muss rechtliche Konsequenzen befürchten, wenn er ein Schnitzel oder einen veganen Auflauf postet, für oder wider E-Auto oder was auch immer ist. Auf persönliche Angriffe hingegen muss er gefasst sein. Hüben wie drüben und über alle Bildungs- und Altersgruppen hinweg. Das kann nicht jeder ertragen und hält sich mit der eigenen Meinung dann doch lieber zurück. Darum Hut ab vor Menschen wie Greta Thunberg, die für ihr Anliegen jede Menge einstecken müssen, das mit der Sache nichts, aber auch gar nichts zu tun hat.

Meine 86jährige Mutter hat uns früher oft mit dem Spruch „was du nicht willst, das man dir tu, das füg auch keinem andern zu“ genervt. Keine schlechte Maxime, denke ich heute. Gelingt nicht immer, weiß ich aus Erfahrung, aber man kann sich drum bemühen. Damit wäre schon viel gewonnen.

Kirsten

 

© Text und Bild: Kirsten Marter-Dumsch, Februar 2020

 

2 Kommentare Gib deinen ab

  1. Jens Körner sagt:

    Liebe Kicki,

    ich habe lange nichts mehr von Dir gelesen, hatte weder die Ruhe, noch die Musse, noch das Wollen dazu. Wer weiss, was mir wohlmöglich deswegen entgangen ist. Um so froher bin ich, dass ich diese Geschichte gelesen habe. Gerade diese. Wie so oft kommen die Dinge, wenn sie sollen, ungefragt und rücksichtlos auf Befinden, Meinung oder Stimmung. Diese Deiner Geschichten ist eine der besten, die ich je von Dir gelesen habe. Gerade, weil es mein Konflikt trifft, Wiederspruch und Erinerung zu einen und Besonders wach zu halten, was geschah und immer wieder geschieht, um zu verhindern, dass man Teil der teilnahmslosen Masse wird. Menschlichkeit ist es, was zählt und Menschlichkeit braucht eine Stimme…. Erst das Alter lehrt uns das Wissen und die Demut, das alles sich wiederholt und wir einstehen müssen, für das, was wir glauben…Danke alleine dafür, denn Deine Geschichte sinkt ein wie ein Stein in die See und die Wellen an der Oberfläche sind nur das Äussere dessen, was sie bewirkt.

    Danke für diese wundervolle Geschichte, sie hat mich tief bewegt…ich wünschte nur, die junge Journalistin hätte das Bild behalten…es hätte ein anderes Ende gefunden…

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    1. monatsweise sagt:

      Lieber Jens, vielen Dank für dieses wunderbare Feedback. Besonders schön zu lesen ist, dass wir uns in der zentralen Botschaft einig sind.

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